Sonntag, 10. April 2011

Milano City Marathon - Sommer in Mailand



Es ist überstanden.

Ich liege im Schatten unter einem Baum auf einer Wiese vor dem Castello Sforzesco. Aus ein paar Metern Entfernung hallen noch immer ununterbrochen die italienischen Anfeuerungsrufe des Zielsprechers. Der Zustand meiner Beine wechselt spontan zwischen Schmerz und Taubheit und der Durst quält mich immer noch. Ich schließe die Augen. Ich bin froh, dass es überstanden ist. Vor etwas mehr als vier Stunden begann der schwerste Lauf, den ich je gelaufen bin...

Ich bin seltsam entspannt, als ich mich in meinem Startblock zwänge. Nichts zu spüren von der Aufregung, wie sie mich beim ersten Mal in Prag erfasst hatte oder auch im Herbst beim MDM. Ich fühl mich gut vorbereitet, habe einen genauen Plan, wie ich laufen will. Vielleicht liegt es ja daran. Oder weil Kerstin mit dabei ist. Ich winke ihr noch einmal zu und freue mich schon, dass sie an mehreren Stellen an der Strecke auf mich warten und mich anfeuern will. Jens, Felix, Kressi und ich, wir klatschen uns nochmal ab und dann verlieren wir uns im Gewühl des Starterfeldes.

Das einzige, was mir ein bisschen Sorgen macht, ist der strahlend blaue Himmel. Es ist Anfang April, aber wir haben Sommer in Mailand. Bis zu 30° C sind angesagt. Jetzt, kurz nach neun, ist es noch angenehm kühl. Hoffentlich bleibt es lange so.

Dann fällt der Startschuss. Es geht los. Nach vielen, vielen Trainingswochen mit über 600 km und wochenlanger Vorfreude laufe ich meinen dritten Marathon. Ich fühle mich richtig gut.

Die ersten Kilometer laufen wir durch die wenig spektakulären Außenbezirke von Mailand. Vereinzelt haben sich auch ein paar Zuschauer an die Strecke verirrt. Trotzdem fliegen die ersten Kilometer dahin. Ich laufe schön ruhig, genau nach Plan. An den Kilometerschildern bin ich mal ein paar Sekunden vor, mal hinter der Zeit. Die Männer mit dem roten Ballon mit der 3:45 hab ich fest im Blick. Alles im grünen Bereich. Ich ahne noch nicht, dass Sekunden bald keine Rolle mehr spielen.

Bei Kilometer 12 taucht groß und gewaltig das Guiseppe-Meazza-Stadion auf. Dort hat gestern erst Inter Mailand gespielt, und wir haben die Chance genutzt, live dabei zu sein. Das Spiel war nichts besonderes, aber die Atmosphäre in diesem riesigen Kessel ist schon ein Erlebnis.

Die Zuschauerreihen am Straßenrand werden jetzt immer dichter. Irgendwo hier bei Kilometer 14 wollte ja auch Kerstin mit Sebastian und Bianca warten. Ich sperre die Augen auf. Auf keinen Fall will ich sie verpassen. Und dann seh ich sie, winke ihr zu und dann ist dieser Moment auch schon wieder vorbei. Vor lauter Aufregung fällt mir auch noch das Sportstracker-Handy aus der Armtasche und schlittert über den Asphalt. Jetzt sind auch noch meine GPS-Daten futsch! Aber ich habe Glück. Das Handy hat den Sturz überlebt und es ist auch keiner draufgetreten. Weiter geht's!

Ein Drittel des Rennens ist geschafft. Es ist warm geworden in der Zwischenzeit. An den Wasserstellen werden die Getränke nicht mehr in Bechern, sondern gleich in Flaschen gereicht. Das ist gut so. Mit einem halben Liter Wasser komme ich gerade so von einer Station zur nächsten. Die Wärme macht mich vorsichtig. Ich will nicht zu schnell laufen. Ich weiß, dass es noch weit ist bis ins Ziel. Bei Halbzeit zeigt die Uhr 1:53 h. Die Männer mit dem roten Ballon habe ich aus den Augen verloren.

Wie sind jetzt in der Innenstand von Mailand. Die Beine werden langsam schwer, der Durst wird zu einem immer stärker ins Bewusstsein dringenden Gefühl. Mittlerweile bin ich auch zu sehr mit mir selbst beschäftigt, als dass ich die Mailänder Sehenswürdigkeiten genießen könnte. Nur als es am Dom vorbei geht, hebe ich den Blick, um bewusst zu genießen: Diese imposante Kathedrale vor dem strahlend blauen Himmel, Menschenmengen am Rand, die uns anfeuern: "Bravi, Ragazzi, bravi!". Ich laufe Marathon in Mailand!

Und dann entdecke ich auch Kerstin und die andern beiden wieder. Noch einmal ein schönes Gefühl, bevor es auf noch 14 quälende Kilometer geht. Auf die Kilometer, die man nicht trainieren kann, auf denen man mit sich selbst allein ist. Auf die Kilometer, auf denen der Kampf beginnt.

Nach drei gelaufenen Stunden ist es nicht mehr nur warm, jetzt ist es heiß. Ich trinke an jeder Verpflegungsstelle und trotzdem wird ein paar Minuten später die Zunge zu einem dicken, klebrigen Klumpen im Mund. Auf dem T-Shirt bilden sich weiße Krusten, und wenn ich mir mit dem Schwamm das Gesicht nass mache, läuft mir Salzwasser in den Mund. Ich höre plötzlich Schreie. Laute, eindringliche Schmerzensschreie. Am Straßenrand liegt ein Läufer, den furchtbare Krämpfe gepackt haben. Obwohl ihm schnell ein paar andere helfen, muss er qualvolle Schmerzen haben. Er brüllt wie am Spieß, und noch hunderte Meter weiter hallen seine Schreie durch die Häuserschluchten.

Ich kämpfe auch. Eigentlich will ich nicht mehr. Nicht mehr kämpfen und nicht mehr laufen. Aber ich laufe weiter. "Bleib nicht stehen! Heute läufst du durch!" Die Füße sind so schwer. Ich bekomme sie kaum noch vom Boden hoch. Ich werde auch immer langsamer. An 3:45 h ist schon lange nicht mehr zu denken. Vielleicht noch die Bestzeit vom MDM? "Dann musst du anziehen! Jetzt!" Keine Chance. Es geht nicht schneller. Diese Einsicht tut weh. Wochenlang trainiert man, quält man sich, richtet alles auf diesen einen Tag aus... Ich laufe keinen Marathon mehr! Dieser, mein dritter Marathon in Mailand wird mein letzter sein! Bei Kilometer 37 überholen mich die Männer mit den blauen Ballons. "4:00" steht drauf.



Eine gute halbe Stunde später kann ich endlich den Zielsprecher hören. Ich laufe die letzten Schritte vorbei an den dicht gedrängten Zuschauermassen, versuche den geschundenen Körper nochmal aufzurichten. Irgendwo in der Menge steht auch Kerstin und ruft und schreit, aber ich höre sie nicht. Ich will nur noch ins Ziel. Die Vorfreude, es gleich überstanden zu haben, erlöst zu sein, treibt mir die Tränen in die Augen. Und dann ist es vorbei. Ich versuche die Faust zu ballen. Ich weiß nicht, ob es gelingt.

Und dann liege ich im Schatten unter einem Baum auf einer Wiese vor dem Castello Sforzesco...



Nach einer Weile sind wir alle zusammen: Jens, der schon nach 3:24 h im Ziel war, Felix und Kressi, die auch nach hartem Kampf jetzt mit einer Superzeit Marathonis sind -Glückwunsch!!!- , und unser Begleit- und Fototeam Kerstin, Sebastian und Bianca. Dann lassen wir unsere Jubelschreie raus und posen wie echte Helden vor der Kamera. Der geballte Stolz, in dieser Hitzeschlacht bestanden zu haben, ist zu greifen. Wir haben allen Grund zu feiern!

Ich tue mich am Anfang ein bisschen schwer, über meine 4:05:14 h nicht enttäuscht zu sein und sie nicht als Niederlage zu sehen. Jetzt, nach ein paar Tagen, relativiert sich dieses Gefühl: Ich war in diesem schweren Rennen bei diesen Bedingungen nur zwölf Minuten über meiner MDM-Bestzeit. Von den ca. 4000 Läufern, die an den Start gegangen sind, haben 1000 das Ziel nicht erreicht. Ich gehöre zu den anderen, und jetzt bin ich stolz darauf. Mittlerweile studiere ich schon wieder Trainingspläne und von dem Gerede "Nie wieder Marathon!" will ich nichts mehr wissen. Im Oktober geht's nach Palma de Mallorca. Ich greife wieder an!


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